Meinungsfreiheit versus Persönlichkeitsrecht

Am 6. November 2019 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Oberlandesgerichts Celle zurückgewiesen (Beschluss v. 6.11.2019 – 1 BvR 276/17 – Recht auf Vergessen II), in dem dieses die Klage der Beschwerdeführerin gegen den Suchmaschinenbetreiber Google auf Entfernung eines Links abgewiesen hatte.

Sachverhalt

Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) strahlte im Januar 2010 einen Beitrag des Fernsehmagazins „Panorama“ mit dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ aus. Die Beschwerdeführerin hatte als Geschäftsführerin eines Unternehmens für diesen Beitrag zuvor ein Interview gegeben. Gegen Ende des Beitrags wurde der Fall eines gekündigten ehemaligen Mitarbeiters dargestellt, wobei der Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit der Gründung eines Betriebsrates ein unfairer Umgang mit dem Mitarbeiter vorgeworfen wurde.

Ein Transkript dieses Beitrags veröffentlichte der NDR auf seiner Internetseite. Suchte man den Namen der Geschäftsführerin bei Google, wurde als eines der ersten Ergebnisse die Verlinkung auf das Transkript angezeigt. Google lehnte es ab, die Nachweise dieser Seite zu unterlassen. Daraufhin erhob die Geschäftsführerin Klage auf Entfernung des Links (sog. Auslistung), gestützt auf § 35 Abs. 2 Satz 2 BDSG a. F und §§ 823 Abs 1, 1004 BGB in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG. Die Klage wurde vom Oberlandesgericht Celle abgewiesen.

Mit einer Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht rügt die Geschäftsführerin eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts und ihres Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Sie habe keine „fiesen Tricks“ angewandt. Darüber hinaus rufe das Suchergebnis eine negative Vorstellung über sie als Person hervor und werte sie dadurch als Privatperson ab. Zudem bestehe kein berechtigtes öffentliches Interesse mehr an dem Bericht, da er zeitlich weit zurückliege.

Entscheidung des Gerichts

Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte

Zunächst stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die anwendbaren Regelungen unionsrechtlich vollständig vereinheitlicht sind und deshalb die Grundrechte des Grundgesetzes nicht anwendbar sind. Zur Vermeidung von Schutzlücken prüft das Bundesverfassungsgericht stattdessen am Maßstab der Unionsgrundrechte und nimmt dadurch seine Integrationsverantwortung aus Art. 23 GG wahr. Das Bundesverfassungsgericht übt seine Kontrolle dabei in enger Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof aus, da dieser für die letztverbindliche Auslegung des Unionsrechts und damit auch der Grundrechte der Grundrechtecharta zuständig ist.

Der Senat führt aus, dass die Unionsgrundrechte nicht nur im Verhältnis Staat-Bürger, sondern auch in privatrechtlichen Streitigkeiten Schutz gewährleisten und dabei miteinander in Ausgleich zu bringen sind.

Das Bundesverfassungsgericht prüft, ebenso wie bei der Heranziehung der Grundrechte des Grundgesetzes, nicht die richtige Anwendung des einfachen Rechts (im vorliegenden Fall die damals geltende Datenschutzrichtlinie und das Bundesdatenschutzgesetz), sondern allein, ob die Fachgerichte den Unionsgrundrechten hinreichend Rechnung getragen und zwischen ihnen im Rahmen der gebotenen Abwägung einen vertretbaren Ausgleich gefunden haben.

Betroffene Grundrechtspositionen

Auf Seiten der Geschäftsführerin des Unternehmens sind in die Abwägung die Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 7 GRCh und auf Schutz personenbezogener Daten aus Art. 8 GRCh einzustellen. Eine Entsprechung haben diese Garantien in Art. 8 EMRK.

Auf Seiten des beklagten Suchmaschinenbetreibers Google ist sein Recht auf unternehmerische Freiheit aus Art. 16 GRCh einzustellen. Google könne sich dagegen für die Verbreitung von Sichtweisen nicht auf die Meinungsfreiheit aus Art. 11 GRCh berufen. Jedoch seien die unmittelbar betroffenen Grundrechte Dritter, hier sowohl das Informationsinteresse der Nutzer als auch die Meinungsfreiheit des NDR zu berücksichtigen. Wenn es einem Suchmaschinenbetreiber verboten würde, die von einem Dritten bereitgestellten Beiträge zu verbreiten, kann darin eine eigenständige Einschränkung der Meinungsfreiheit des Dritten, hier des NDR, liegen. Diesem werde ein bereitstehender Dienstleister und somit teilweise auch ein wichtiges Medium für die Verbreitung seiner Berichte genommen. Dies sei nicht ein bloßer Reflex einer Anordnung gegenüber dem Suchmaschinenbetreiber. Vielmehr knüpfe die Entscheidung unmittelbar an die Äußerung und an den Gebrauch der Meinungsfreiheit an, da es gezielt darum ginge, die Verbreitung des Beitrags wegen seines Inhalts zu beschränken. Die Frage, ob der Suchmaschinenbetreiber rechtmäßig gehandelt hat, sei nicht identisch mit der Frage, ob die Veröffentlichung des Beitrags durch den Dritten rechtmäßig war. Die Tätigkeit des Suchmaschinenbetreibers sei somit eigenständig zu beurteilen und ein Vorgehen gegen den Suchmaschinenbetreiber auch nicht subsidiär gegenüber dem Dritten als Anbieter der Inhalte.

Abwägung des Bundesverfassungsgerichts

Zwar sei allein das wirtschaftliche Interesse des Suchmaschinenbetreibers nicht ausreichend, um den Schutzanspruch der Betroffenen zu beschränken. Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit sowie einzubeziehende Grundrechte Dritter könnten aber ein größeres Gewicht haben. Im vorliegenden Fall ist die Meinungsfreiheit des NDR, der insofern grundrechtsberechtigt ist, unmittelbar mitbetroffen. Die in anderen Konstellationen (s. z.B. EuGH, Urteil  vom 13.5.2014 – C-131/12 – Google Spain) angenommene Vermutung eines Vorranges des Schutzes des Persönlichkeitsrechts des Betroffenen, gilt laut Bundesverfassungsgericht im hier behandelten Fall nicht. Ebenso wenig wie Einzelne gegenüber den Medien einseitig darüber bestimmen könnten, welche Informationen im Rahmen der öffentlichen Kommunikation über sie verbreitet werden, hätten sie eine solche Bestimmungsmacht gegenüber den Suchmaschinenbetreibern. Die sich gegenüberstehenden Grundrechte seien gleichberechtigt miteinander abzuwägen.

Bei der Abwägung komme es für die Gewichtung der Grundrechtseinschränkung der Betroffenen maßgeblich darauf an, wieweit sie durch die Verbreitung des Beitrags des NDR, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Möglichkeit namensbezogener Suchabfragen, in ihrer Persönlichkeitsentfaltung beeinträchtigt würden. Hierfür reiche nicht eine Würdigung der Berichterstattung in ihrem ursprünglichen Kontext; vielmehr sei auch die leichte und fortdauernde Zugänglichkeit der Informationen durch die Suchmaschine zu berücksichtigen. Dabei sei insbesondere auch der Bedeutung der Zeit zwischen der ursprünglichen Veröffentlichung und deren späterem Nachweis Rechnung zu tragen, wie es nach der aktuellen Rechtslage auch in Art. 17 DSGVO nach dem Leitgedanken eines „Rechts auf Vergessenwerden“ normiert ist.

Zum Urteil des OLG Celle

Das OLG Celle stelle richtigerweise die genannten Grundrechtspositionen in die Abwägung ein. Seine Entscheidung halte sich damit im fachgerichtlichen Wertungsrahmen und sei im Ergebnis nicht zu beanstanden. Auch habe das OLG Celle zutreffend erkannt, dass ich der Beitrag auf ein in die Gesellschaft hineinwirkendes berufliches Verhalten der Beschwerdeführerin, nicht aber allein auf ihr Privatleben beziehe und in Hinblick hierauf durch ein noch fortdauerndes, wenn auch mit der Zeit abnehmendes öffentliches Informationsinteresse gerechtfertigt sei. Diesbezüglich müsse die Beschwerdeführerin belastende Wirkungen – auch in ihrem privaten Umfeld – weitergehend hinnehmen als gegenüber Beiträgen über ihr privates Verhalten.

Darüber hinaus konnte das OLG Celle darauf abstellen, dass die Beschwerdeführerin zu dem Interview, das Teil des Beitrags des NDR war, ihre Zustimmung gegeben hatte. Der Bericht und der hierauf verweisende Link sei zurecht auch nicht als Schmähung beurteilt worden, da es nicht ohne Sachbezug allein um die Verunglimpfung der Person geht.

Schließlich habe das OLG Celle auch den Zeitfaktor in seine Abwägung eingestellt und geprüft, ob die Weiterverbreitung des Beitrags unter Namensnennung angesichts der inzwischen verstrichenen Zeit noch gerechtfertigt ist. Der Zeitfaktor könne sowohl das Gewicht des öffentlichen Interesses als auch das der Grundrechtsbeeinträchtigung modifizieren (vgl. dazu den BVerfG, Beschluss vom 6.11.2019 – 1 BvR 16/13 – Recht auf Vergessen I). Das OLG Celle sähe einen Anspruch auf Auslistung danach im vorliegenden Fall mit verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Begründung als jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht gegeben an. Dies trage den Garantien der Grundrechtecharta hinreichend Rechnung und lasse eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von Bedeutung und Tragweite der berührten Unionsgrundrechte nicht erkennen.

Keine Vorlage an den EuGH

Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV sei nicht geboten. Im vorliegenden Fall seien alle aufgeworfenen Auslegungsfragen aus sich heraus klar oder bereits durch die Rechtsprechung des EuGH – unter ergänzender Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – hinreichend geklärt.

Konsequenz für Unternehmen

Für Unternehmen ist interessant, dass das Informationsinteresse der Öffentlichkeit und die Grundrechte Dritter in die Interessenabwägung einbezogen werden und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen gegenüberstehen. Diese Grundrechtspositionen können deutlich stärker ins Gewicht fallen als das wirtschaftliche Interesse eines Suchmaschinenbetreibers. Bedeutung dürfte der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts somit vor allem für Rundfunkanstalten, Zeitungen und Nachrichtenmagazine haben, die sich bei der Verbreitung ihrer Inhalte auf die Pressefreiheit und die Meinungsfreiheit berufen können.

Bewertung und Ausblick

Das Bundesverfassungsgericht hat erstmals entschieden, dass es die Anwendung des Unionsrechts durch deutsche Stellen selbst am Maßstab der Unionsgrundrechte prüft, soweit diese die deutschen Grundrechte verdrängen.

Hervorzuheben ist aber vor allem, dass Grundrechte Dritter neben dem wirtschaftlichen Interesse der Suchmaschinenbetreiber in die Interessenabwägung einbezogen werden können. Dabei genießt das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen keinen grundsätzlichen Vorrang gegenüber anderen Grundrechtspositionen. Das „Recht auf Vergessenwerden“ steht im Spannungsverhältnis zwischen dem Persönlichkeitsrecht und der Presse- und Meinungsfreiheit. Welches Grundrecht dabei überwiegt wird nunmehr von den Gerichten von Fall zu Fall zu prüfen sein. Dem Recht auf Vergessenwerden kommt in Zeiten des Internets eine besondere Bedeutung zu. Viel mehr als früher können Beiträge und Artikel über Onlinearchive dauerhaft eingesehen werden. Das Bundesverfassungsgericht trägt dem dadurch Rechnung, dass es in seinen Beschlüssen vom 6. November 2019 (Recht auf Vergessen I und II) auf die Bedeutung des Zeitablaufs eingeht und den Zeitfaktor im Rahmen seiner Abwägung differenziert berücksichtigt.

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